Kein Deutschland ohne Bismarck ?

Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 und die Person des preußischen Ministerpräsidenten.

Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs jährt sich im Jahr 2021 zum 150. Mal. Seit eineinhalb Jahrhunderten wird über dieses Ereignis gestritten. In der Mitte der Auseinandersetzung steht die Person Otto von Bismarcks. War er Reichsgründer und Weichensteller oder Kriegstreiber und Modernisierungsverhinderer? War er gar, wie der Historiker Lothar Gall schrieb, ein „weißer“ Revolutionär?

Der Vortrag erläutert anhand der Biografie Bismarcks die Ereignisse, die zur Reichsgründung führten: sein überraschender Aufstieg zum preußischen Gesandten am deutschen Bundestag, die umstrittene Ernennung zum preußischen Außenminister und Ministerpräsidenten und die damit verbundenen Auseinandersetzung in der preußischen Politik bis hin zur Reichsgründung.

Nachdem Bismarck von der historischen Forschung viele Jahre entweder als Nationalheld gefeiert oder als antidemokratischer Dämon verteufelt wurde, hat sich mittlerweile eine differenziertere Interpretation durchgesetzt. Auch wenn wenig Zweifel daran besteht, dass der Reichskanzler eine „Signalfigur“ der deutschen Geschichte darstellte, wie es bereits der Zeitgenosse Friedrich Naumann formulierte, erscheint es entscheidend, Bismarck als Zeitgenosse der Geschichte des 19. Jahrhunderts zu verstehen, denn die Bewertung Bismarcks ist mit der entsprechenden Interpretation des Kaiserreichs eng verflochten. War das Deutschen Reiches trotz Verfassung und allgemeinem Wahlrecht ein verfassungsrechtliches Konstrukt, das eine parlamentarische Demokratie unmöglich machte? Oder finden sich in der Geschichte des Kaiserreichs Elemente einer bürgerlichen Gesellschaft modernen Zuschnitts, deren Reformbereitschaft über das hinausgeht, was lange Zeit angenommen wurde?

Der Vortrag thematisiert sowohl die Vorgeschichte als auch die Reichseinigung selbst: das Erbe der Revolution von 1848/49, die gesellschaftspolitische Kraft, die der Nationalismus in Deutschland in den zwei Jahrzehnten seit 1850 entwickelte, die Entscheidung der liberalen Kräfte innerhalb Deutschlands, sich dem Nationalstaat unter preußischer Führung zu verschreiben.

Der Historiker Eckart Conze hat der Reichsgründung zuletzt ein „schwierigen Erbes“ attestiert. Auch diesen im Kontext des Jahrestages viel diskutierten Aspekt nimmt der Vortrag auf und erörtert die Konsequenzen, die sich aus der fehlenden Parlamentarisierung, der Verfolgung politischer Gegner sowie der Abwendung Bismarcks von der liberalen Partei ergaben.

Eckdaten :

1848/49 : Revolution in vielen europäischen und fast allen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes

29. November 1850 : Olmützer Punktuation. Die beiden Großmächte Preußen und die Habsburgermonarchie einigen sich auf die Wiederherstellung des Deutschen Bundes.

23. August 1851 : „Bundesreaktionsbeschluss“: der Bundestag kann Rechte der Bundesstaaten aufheben.

7. Oktober 1858 : Regentschaft: Prinz Wilhelm übernimmt die Regierung Preußens für seinen regierungsunfähigen Bruder König Friedrich Wilhelm IV.

20. Juli 1859 : Gründung des deutschen Nationalvereins

16.-19. Juni 1860 : 1. Deutsches Turnerfest mit 30.000 Teilnehmern

23. September 1862 : Das preußische Abgeordnetenhaus verweigert alle Ausgaben für die Heeresreform. Ernennung Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister: Verfassungskonflikt.

7. Dezember 1863 : Der Deutsche Bund beschließt eine Bundesexekution über Holstein: Deutsch-Dänischer Krieg.

14. Juni 1866 : Die Habsburgermonarchie setzt eine militärische Intervention gegen Preußen durch: deutsch-deutscher Krieg.

18. August 1866 : Vertrag Preußens mit 16 anderen Staaten zur Gründung des Norddeutschen Bundes.

16. April 1867 : Annahme der Verfassung des Norddeutschen Budnes.

8. August 1868 : Gründung der Social-Demokratischen-Arbeiterpartei in Eisenach.

13. Juli 1870 : Emser Depesche: Bismarck provoziert Napoleon III. Es folgt die französische Kriegserklärung.

1./2. September : Schlacht bei Sedan. Es folgt die Belagerung von Paris.

15.-25. November : Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund.

18. Januar 1871 : Kaiserproklamation in Versailles.

10. Mai 1871 : Friede von Frankfurt.

Ihr Dozent

Torsten Riotte lehrt Geschichte an der Goethe Universität Frankfurt. Im Anschluss an ein Studium an der Universität zu Köln wurde er im Jahr 2003 an der Universität Cambridge promoviert. Er lebte insgesamt sieben Jahre in Großbritannien und arbeitete dort als Mitherausgeber der Quellenedition „British envoys to Germany, 1816-1866“, die das Deutsche Historische Institut London zusammen mit der Royal Historical Society publizierte. 2007 kehrte er nach Deutschland zurück und habilitierte sich 2014 an der Goethe Universität Frankfurt. Im Anschluss vertrat er Professuren in Frankfurt, Bonn, Heidelberg und Tübingen. Seit 2020 ist er Außerplanmäßiger Professor für Neure Geschichte an der Goethe Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Diplomatiegeschichte, die Geschichte der europäischen Monarchien sowie die Medizingeschichte im 19. Jahrhundert. Zurzeit arbeitete er an einer Geschichte Europas von 1850 bis 1870. Bereits erschienen sind u.a. (zusammen mit Markus Mößlang) „A cultural history of diplomacy“ sowie seine Studie „Der Monarch im Exil. Eine andere Geschichte von Legitimität und Staatlichkeit im 19. Jahrhundert.“

Lesetipps :

Eckhart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. München 2020.

Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Berlin 1980.

Christoph Nonn, Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert. München 2006.

Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, 1871-1918. München 2020.

Christian Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung, 1849-1871. Paderborn u.a. 2011.