Das Memorial „Alsace-Moselle“ :

Elsässische Gedenkkultur im Spannungsfeld

Das Erlebte der Kriegsgeneration steht im Elsass im Mittelpunkt der Erinnerungspolitik und somit auch seiner Identitätsvorstellungen von sich selbst. Die Zwangseingezogenen bildeten unter diesem Gesichtspunkt die größten Interessensgruppierungen und ihre Geschichte weißt auf mehrere Etappen.

Von den 130.000 Betroffenen sind ca. 40.000 gefallen oder bis heute vermisst. Wie sollte der französische mit diesen Landsleute die die Uniform des Feindes getragen haben umgehen? Die Bezeichnung „Mort pour la France“ (gestorben für Frankreich) wurde, nach einer Überprüfung der Verwaltung, weitgehend den Zwangseingezogenen (Malgré-Nous) gegeben. Somit wurde eine zögernde aber letztlich doch weitgehende Gleichstellung der Elsässer mit den anderen französischen Veteranengruppierungen erreicht. Wenn auch die Wortwahl dieser Kategorisierung irreführend war… sollte es nicht heißen, „wegen Frankreich gefallen“, oder „wegen Deutschland gefallen“? Nach der großen Krise des Oradourmassaker-Prozesses (1953), bei dem 14 Elsässer auf der Anklagebank neben Deutschen saßen, galt sehr lange das Gebot: „Redde m’r nimmeh devun“. In dieser Zeit standen andere im Licht: die gaullistischen Helden und die Résistants.

Erst durch den Geist von 68 entstand in den 70/80er Jahren eine neue Etappe der Erinnerungskultur, als Zwangseingezogene ihre Erlebnisse als Zeitzeugen Publik machten. Das „Opferschicksal“ der Malgré-Nous passte sich der neuen Zeit an, in der die „Opferkultur“ (insbesondere in Bezug zum Holocaust) in den Mittelpunkt rückte und neue Forderungen entstanden. Besonders das Lagerleben in russische Gefangenschaft, im Berücksichtigten Lager von Tambov, wurde nun zum Thema. Diese Öffentlichkeitsarbeit mündete nun in einen deutsch-französischen Ausgleich. So kam es Mitte der 80er Jahren zu einer späten „moralischen“ Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland.

Die Regionalisierung Frankreichs, der Zusammenbruch der Sowjetunion und neue öffentliche Gedenkformen (Mémorials, insbesondere in Oradour) führten zu einer weiteren Etappe. Das 1999 initiierte „Memorial d’Alsace-Moselle“ wurde gegenüber dem ehemaligen KZ Struthof, in der Gemeinde Schirmeck, wo sich bis 1945 ein „Umerziehungslager“ für Elsässer befand, gebaut. Eingeweiht wurde es 2005, an einem 18. Juni (Gedenktag des Appels General de Gaulles zum Widerstand), allerdings ohne die Anwesenheit politischer Prominenz aus Paris.

Diese Einrichtung wurde sozusagen zum Vermächtnis der Erlebnisgeneration für ihre Kinder und zu einer der ersten Selbstdarstellungen der regionalen Körperschaften. Eine Herausforderung für die Museographen in Betracht der vielen unterschiedlichen regionalen Gedenkkulturen die sich zum Teil gegenüberstanden: im Mittelpunkt die Mehrheitsgruppe der Zwangseingezogenen und „gegenüber“ sozusagen: Die Verweigerer, die Widerstandskämpfer, die Deportierten usw… aber auch nicht zuletzt Differenzen zwischen Lothringer (Moselaner) und der Elsässer.

Zumal weitere Forderung in den letzten Jahren von den Kindern der Malgré-Nous gestellt wurden: das Memorial sollte auch Gedenkstätte und Trauerort werden. Eine „Mauer der Namen“ mit allen Opferkategorien sollte erbaut werden, diese Einheitliche Darstellung löste eine Kontroverse aus, die die Spaltung der Erinnerungen in der Gesellschaft unterstreicht. Gleichzeitig wollte die Region Elsass, die der Kritik ausgesetzt war im Memorial eine größtenteils negative Identität zu vermitteln, den Besuchern (viele Schüler) eine „europaphile“ Zukunftsvision geben und so kam zu einer neuen Szenographie die vom Europaparlament unterstützt wurde.

Als das Projekt „EUphoria“ 2017 eingeweiht wurde, war die Region Elsass von Präsident Holland aufgelöst und in die neue „Grand Est Region“ integriert worden. Diese hochzentralistische Entscheidung, als Demütigung empfunden, führte zu einem Erwachen autonomistischen Tendenzen. 

Die Proteste der Bevölkerung und Ihrer Vertreter und die Wahl eines neuen Präsidenten führten zu einer Wiedergeburt, 2021, als Europäische Gebietskörperschaft (Collectivité européenne d’Alsace), allerdings immer noch als Teil des Grand Est. Nun stellt sich die Frage: Mit welcher Erinnerungskultur? Mit welcher Darstellung von sich selbst? 

Eckdaten :

22.06.1940 : Unterschrift Waffenstillstand und de facto Annexion des Elsass. Das Elsass wird in ein Gau Baden-Elsass zivilverwaltet.

25.08.1942 : Dekret zur Zwangseinziehung der Elsässer in die Wehrmacht.

Frühjahr 1943: Die ersten Elsässer kommen zur Front.

1.10.1943: Verordnung über Umsiedlung, Einziehung des Vermögens und Vorführung vor Sondergericht der Familien als Sippenhaftung.

10.6.1944. Massaker von Oradour sur Glane. Elsässer sind beteiligt.

1953: Prozess in Bordeaux der Täter von Oradour. Protest und Amnestie der meisten Elsässer.

1955: Heimkehr aus Russland des letzten Malgré-Nous.

1968: Les Nuits de Fastov. Roman von A. Weckmann, ehemaliger Malgré-Nous und Deserteur.

1981: Deutsch-Franz. Abkommen über die Entschädigung der Elsässer und Moselaner.

1983/88: Dokumentarfilm (200 Interviews) „Elsass Kriegsbeute“. „Vor dem Vergessen“.

1998: Einweihung eines „französischen Carré“ in Tambov.

2005: Einweihung des Mémorial Alsace-Moselle.

2007: Forderung nach Anerkennung eines franz. Schuldbekenntnisses.

2012: Sarkozy erkennt die Malgré-Nous als Naziopfer und bescheinigt, dass sie „keine Verräter“ sind.

2017: Projekt EUphoria und Kontroverse über die Mauer der Namen. 

Ihr Dozent

Bernard Klein studierte Geschichte und Personalwesen in Strasburg. Er war Gastlektor für Französisch in Berlin und ist Personalreferent in Betriebe in Frankreich und Deutschland. Seit 1995, leitet er die Internationalen Albert Schweitzer Begegnungsstätte in Niederbronn-les-Bains. 


Lesetipps :

Eugène Riedweg: Les „Malgré-Nous“, Editions du Rhin, 1995.

Philippe Wilmouth, Mémoires parallèles, Moselle-Alsace de 1940 à nos jours, o. D. Metz.

Klos Eva-Maria, Umkämpfte   Erinnerung.   Die   Zwangsrekrutierung   im   Zweiten   Weltkrieg   in Erinnerungskulturen Luxemburgs, Ostbelgiens und des Elsass (1944-2015), thèse de doctorat sous la direction de Jean-Pierre Lehners et Lutz Raphaël, Universités du Luxembourg et de Trèves, 2017

Abgekürzt: Die Zwangsrekrutierung in Westeuropa: Deutungskämpfe in der Geschichtsschreibung von 1944 bis heute », in Hémecht, 2017, n°3-4, p. 359-371

Peter M. Quadflieg, Frédéric Stroh, L'incorporation de force dans les territoires annexés par le IIIe Reich ; die Zwangsrekrutierung in den vom Dritten Reich annektierten Gebieten (zweisprachige Ausgabe) Presses Universitaires de Strasbourg, Les Mondes Germaniques, N° 18, 10 Janvier 2017.