Konstantinopel – Istanbul

Stadt der Sultane und Rebellen

Konstantinopel bzw. Istanbul ist immer eine Stadt der Kaiser und Sultane gewesen. Hier regierten die Mächtigen über Regionen mehrere Tausend Kilometer von der Stadt entfernt. Gleichzeitig bildeten sich in der Stadt durch Eroberungen, Steuern und Zoll ein Reichtum und Kunstschätze heraus, die über Jahrhunderte ihres gleichen suchten, und auch heute ist die Stadt das wichtigste Finanzzentrum zwischen Rom und Dubai. Gleichzeitig haben die Bewohner*innen das Gesicht der Stadt entschieden mitgeprägt, durch ihre Arbeit, ihre Freizeitpraktiken und gelegentlich auch durch Aufruhr.

Henri Lefebvre hat 1968 das „Recht auf Stadt“ formuliert. Demnach entsteht in Städten durch Arbeitsteilung ein Mehrwert an Geld, Wissen und Kunst, der rechtmäßig allen Stadtbewohner*innen zusteht und die Grundlage sein sollte für ein großes öffentliches Fest. Auch bereits der Historiker des 14. Jahrhunderts Ibn Khaldun glaubte, dass Städte durch Arbeitsteilung zu Luxus kommen, dieser Luxus schließlich aber zu Dekadenz und bad governance führe, auf die Verfall oder Erneuerung folgen müssten.

Wie der Vortrag zeigen wird, forderten die Bewohner*innen Konstantinopels bzw. Istanbuls zu den unterschiedlichsten Zeiten in Aufständen eine gerechtere Beteiligung am städtischen Mehrwert ein. Auf diese Weise prägten sie das Gesicht ihrer Stadt, das Herrschaftssystem und sogar den Lauf der Weltgeschichte. Insbesondere sollen drei Aufstände thematisiert werden: der Nika-Aufstand gegen Kaiser Justinian 532, der Marsch auf Edirne 1703 gegen den Mufti Feyzullah Efendi und die Besetzung des Gezi-Parkes von 2013, die sich gegen Premierminister Erdoğan richtete. Durch den Vergleich der drei Aufstände innerhalb unterschiedlicher Epochen und politischen Ordnungen wird deutlich werden, wie die Aufständischen ihr Recht auf Stadt definierten und welches Bild von der Stadt, ihrer Zeit und der Gerechtigkeit sie hatten. 

Eckdaten :

330 : Kaiser Konstantin I. (reg. 306-337) weiht Nova Roma (später Konstantinoúpolis), die neue Hauptstadt des Römischen Reiches, ein. Die bisherige Stadt Byzantion an dieser Stelle wird durch eine neue Stadtmauer, Kaiserpalast, Hippodrom und zahlreiche Prachtalleen und Plätze erweitert und dominiert aufgrund der Lage am Bosporus den Fernhandel.

527-565 : Herrschaft Justinians I. Ausdehnung des Reichs von der Algarve bis nach Georgien. Bevölkerung Konstantinopels ca. 600.000. Bau der Hagia Sophia.

532 : Nikaaufstand gegen Justinian durch die Zirkusparteien niedergeschlagen, 30.000 Tote.

976-1025 : Herrschaft Basileios II. Nach Jahrhunderten der Bedrängung durch äußere Feinde herrscht das Reich wieder über ein Gebiet von Süditalien bis in den Kaukasus und ist interkontinentale Handelsdrehscheibe.

1081-1185 : Herrschaft der Dynastie der Komnenen, die das Reich nach dem Einfall der Seldschuken aus Persien und der Normannen von Sizilien stabilisieren, das Pantokrator-Kloster und neue Paläste bauen lassen.

1204 : Venedig und die Kreuzritter erobern Konstantinopel. Raub und Zerstörung der bis auf die Antike zurückgehenden Kunstschätze. Das Lateinische Kaiserreich hat 55 Jahre Bestand, ehe die Dynastie der Palaiologen die griechisch-orthodoxe Tradition fortsetzen.

29. Mai 1453 : Konstantinopel wird durch Mehmed II. erobert und zur neuen Hauptstadt der Osmanen. Staatsreligion wird der Islam, Christentum und Judentum werden toleriert.

1520-1566 : Herrschaft Süleymans I. (der Prächtige bzw. der Gesetzgeber). Die Osmanen beherrschen ein Weltreich von der heutigen Slowakei bis an den Persischen Golf. Ausbau Istanbuls insbesondere durch Sinan den Architekten, auf den zahlreiche Großmoscheen, Karawanseraien und Bädern zurückgehen.

1697 – Frieden von Karlowitz. Ende der Weltmachtstellung.

1703 – Marsch auf Edirne. Die Janitscharen und die Istanbuler Stadtbevölkerung rebellieren gegen Karlowitz, Korruption und die Residenz des Sultans in Edirne. Revolutionäre Regierung in Istanbul, die Sultan Mustafa II. durch Ahmed III. ersetzt. Rückkehr Ahmeds nach Istanbul, Beginn der Tulpenzeit.

3. November 1839 : Proklamation der „Heilsamen Neuordnungen.“ Nach weitgehenden Gebietsverlusten soll das Reich nach dem Vorbild des aufgeklärten Absolutismus reformiert werden. Intensiver Austausch Istanbuls mit den europäischen Nachbarn per Dampfschiff.

1888 : erster Direktzug Wien-Istanbul.

1900 : Istanbul wird Millionenstadt.

1918 : nach dem verlorenen Weltkrieg Besatzung Istanbuls durch die Entente.

1923 : Abzug der Besatzung. Ausrufung der Türkischen Republik. Erster Präsident Mustafa Kemal (Atatürk, bis 1938). Hauptstadt wird Ankara. Starker Bevölkerungsrückgang Istanbuls.

1950 : Beginn der Landflucht. Istanbul wächst wieder. Stadtumbau nach amerikanischem Vorbild unter Premierminister Adnan Menderes (1950-1960).

2002 - jetzt : Istanbuls wird Megacity (15 Millionen) und wieder international wichtiger Ort für Finanzen, Verkehr, Migration, Tourismus, Bildung, Kunst. Herrschaft Recep Tayyip Erdoğans (Premierminister, ab 2014 Präsident), die ab den 2010ern zunehmend autoritär geprägt ist.

Mai-Juni 2013 : Gezi-Aufstand gegen Stadtumbau, konservative Verhaltensnormen und Staatsrepression mit mindestens 7 Millionen Teilnehmer*innen.

Ihr Dozent

Malte Fuhrmann ist Historiker Südosteuropas und des Mittelmeerraums, lebt in Berlin und Istanbul und hat ausführlich zur Geschichte Istanbuls geforscht. Er war unter anderem am Orient-Institut Istanbul und der Istanbul Bilgi Universität tätig. Zur Zeit verfolgt er ein durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziertes Forschungsprojekt am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: Port Cities of the Eastern Mediterranean. Urban Culture in the Late Ottoman Empire, Cambridge: University Press 2020 ; Konstantinopel – Istanbul. Stadt der Sultane und Rebellen, Frankfurt (M.): S. Fischer 2019 ; Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851-1918, Frankfurt (M.): Campus 2006.

Lesetipps :

Aykaç, Çağla E., “Strong Bodies, Dirty Shoes. An Ode to the Resistance”, in: ROAR, 8. Jan. 2014, https://roarmag.org/essays/gezi-spirit-poetry-art-resistance .

Eldem, Edhem; Goffmann, Daniel u. Masters, Bruce Alan (Hg.), The Ottoman City between East and West. Aleppo, Izmir, and Istanbul, Cambridge 1999.

Herrin, Judith, Byzantium. The Surprising Life of a Medieval Empire, London 2007.

Zarinebaf, Fariba, Crime and Punishment in Istanbul 1701 – 1800, Berkeley 2010.