Zur Wohnungsfrage:
Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß
Anhand des Wohnens in der Stadt sollen wichtige Aspekte urbaner Transformationsprozesse aufgezeigt werden, die das „Bild“ der europäischen Stadt von der industriellen Revolution bis heute prägen, insbesondere in und durch „Medien“. Versprach das Projekt der Moderne eine gerechte und lebenswerte Stadt, so scheint sich diese Utopie mit den sozialen Brennpunkten der Banlieues, aber auch mit den Gated communities der Privilegierten in eine Dystopie verwandelt zu haben. Was sind die Perspektiven heute?
Mit 100 Jahren Abstand kommen in den titelgebenden „Medien“ des Vortrags die Stadt und die Kritik an der zeitgenössischen Stadt zu Wort: „Die Ausdehnung der modernen großen Städte gibt in gewissen, besonders in den zentral gelegenen Strichen derselben dem Grund und Boden einen künstlichen, oft kolossal steigenden Wert. Die darauf errichteten Gebäude, statt diesen Wert zu erhöhen, drücken ihn vielmehr herab, weil sie den veränderten Verhältnissen nicht mehr entsprechen; man reißt sie nieder und ersetzt sie durch andre. Dies geschieht vor allem mit zentral gelegenen Arbeiterwohnungen, deren Miete, selbst bei der größten Überfüllung, nie oder nur äußerst langsam über ein gewisses Maximum hinausgehen kann. (…). Das Resultat ist, daß die Arbeiter vom Mittelpunkt der Städte an den Umkreis gedrängt.“ (Friedrich Engels, „Zur Wohnungsfrage“, 1872, frz. „La question du logement“)
In Jean-Luc Godards Film „Deux ou trois choses que je sais d’elle“ (1967, dt. „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“) ist mit „sie“ die Protagonistin Juliette gemeint, aber vor allem die Pariser Banlieue. Godard thematisiert die Stadtentwicklung von Paris und das Leben einer Hausfrau und Gelegenheitsprostituierten, verkörpert von Marina Vlady, die mit Mann und zwei Kindern in einer Großsiedlung wohnt. Godard wählt den Transformationsprozess der Stadt als eigentliches Objekt des Films und schafft eine angemessene Form von Film, die selbst neu ist: die Collage, eine Collage von Geschichten, die der Heterogenität der „Collage city“ mit ihren Versatzstücken der alten und neuen Stadt besteht.
Eckdaten :
19. Jh. – Linse und Objektiv, die Stadt im Industriezeitalter, Wohnen in der Stadt des Industriezeitalters
1900-1950 – Licht und Schatten, die Stadt im 20. Jahrhundert, Wohnen in der Stadt des 20. Jahrhunderts, Geordneter Wiederaufbau und funktionalistische Stadt
1950-2000 – Großsiedlungen/Grands ensembles, Vorfertigung und normierte Alltagswelt, Kritik an der funktionalistischen Stadt und „Wiederentdeckung“ von Urbanität
2000-... – In welcher Stadt wollen wir leben? Banlieues und Gated communities vs. Ökosiedlungen und partizipatives Wohnen
Ihr Dozent
Assoz. Prof. Dipl.-Ing. Volker Ziegler. Architekt und Stadtplaner, geboren 1965 in Lörrach (D), lebt in Heidelberg. Studium der Architektur an der Universität Karlsruhe (heute Karlsruher Institut für Technologie, KIT) und an der École nationale supérieure d’architecture (ENSA) in Paris-Belleville Wissenschaftliches Aufbaustudium mit städtebaulicher Vertiefung an der ENSA in Paris-Belleville.
Lesetipps :
Neben den titelgebenden Medien auch F. Langs „Metropolis“ (1927), Bücher von A. Mitscherlich („Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, 1965, frz. „Psychanalyse et urbanisme“), H.Lefebvre („Le droit à la ville“, 1968, dt. „Das Recht auf Stadt“) und C. Rowe/ F. Koetter („Collage city“, 1978), sowie vom Vortragenden „Pariser Politur“ (Bauwelt 40-41.2014, S. 14-21), „Grands ensembles, Großsiedlungen und Wohnkomplexe“ (J.-L. Cohen/H. Frank Hgg., „Interferenzen/Interférences: Architektur, Deutschland-Frankreich 1800-2000“, 2013, S. 398-408) und „Ein neues Mainz? Kontroversen um die Gestalt der Stadt nach 1945“ (J.-L. Cohen/H. Frank/V. Ziegler, 2019).